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14.10.2003


    
Blitze aus dem Boden

Bevor die Erde wackelt, treten oft mysteriöse Lichterscheinungen auf. Werden Beben bald vorhersagbar wie das Wetter?

"Unheimliches Knacken in den Bäumen" - Der Himmel war klar. Nur eine leichte Brise wehte am Abend des 25. November 1988, als der kanadische Pelztierjäger Aimé Dallaire aus dem Wald trat. "Ich kam zurück von meinen Fallen, als plötzlich die Erde unter meinen Füßen zu beben begann", erinnert sich der Waidmann. Dann wurde es richtig gespenstisch. Für wenige Sekunden war der Mann umgeben von einem weiß-blauen Licht, das sich schnell über den Boden bewegte. "Ich hatte Angst, es könnte mich treffen", so Dallaire. "Als das Licht den Wald streifte, ertönte von den Bäumen ein unheimliches Knacken." Kurz darauf beobachtete eine Frau knapp 80 Kilometer entfernt etwas ähnlich Mysteriöses: "Ich sah einen orangefarbenen Feuerball mit einem langen Schweif, wie er in einem Meter Höhe über die Mitte der Straße raste." Einen Tag später, ein schwaches Nachbeben erschütterte die Gegend, wendete ein Großvater mit seinem zehnjährigen Enkel gerade seinen Wagen. In diesem Moment sahen sie orangefarbene Flammen aus der geteerten Straßendecke schießen. Nur ein paar Meter von ihrem Auto entfernt züngelte das Licht, immer und immer wieder. Als der Spuk vorbei war, konnten sie keinerlei Spuren im Asphalt erkennen. "Als ich mit dem Mann nach einigen Wochen gesprochen habe, war er immer noch traumatisiert von dem Erlebnis", sagt Erdbebenforscherin France St-Laurent aus dem kanadischen Québec, die diese Berichte zusammengetragen hat. Um die Jahreswende 1988/89 in der Region Québec traten vor, während und nach den Erdbeben an vielen Orten jene ungewöhnlichen Lichterscheinungen auf, über die St-Laurent im Fachblatt "Seismological Research Letters" berichtete.

Rätselhafte Erdbebenlichter werden schon seit der Antike beschrieben, etwa von Seneca, der "immense Flammensäulen" erwähnte, die vor der Zerstörung der Städte Helike und Bura das Erdbeben angekündigt hätten. Und im Jahre 1968 präsentierte der japanische Geologe Yutaka Yasui erstmals Fotos von roten und blauen Farbstreifen am Himmel, die einen ganzen Schwarm kleinerer Beben in der Region Matsushiro begleiteten. Dennoch maßen viele Seismologen Berichten über seltsames Himmelsflackern bis vor kurzem kaum Bedeutung bei. Sie seien zu vage, sie würden nur dem hysterischen Geist von Erdbebenopfern entspringen, und vor allem: Es gebe keine bewiesene physikalische Erklärung für das Phänomen. "Das ist ein ganz heikles Feld", warnt etwa Klaus Klinge vom Seismologischen Zentralobservatorium in Gräfenberg. Dieses klassische Denkgebäude gerät aber derzeit ins Wanken. Denn einige Dissidenten aus der Physik haben elektrische und magnetische Phänomene bei Erdbeben im Labor nachgestellt. Mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen wollen sie jetzt ein Frühwarnsystem entwickeln. Die US-Weltraumbehörde Nasa plant etwa das "Global Earthquake Satellite System", um aus der Erdumlaufbahn Beben künftig schon Wochen zuvor vorhersagen zu können - ähnlich wie beim Wetter.

Werden Katastrophen bald vorhersagbar? Eine wichtige Grundlage dieser Bemühungen geht auf eine Beobachtung zurück: Verräterische Dinge spielen sich in dem Gestein in einer Erdbebenzone ab, wenn es durch die Bewegung der Kontinentalplatten unter enormen Druck gerät. Dabei zerbrechen Moleküle im Kristallgitter bestimmter Gesteinsarten. Es entsteht ein elektrischer Fluss. Normalerweise ist dieses Gestein ein Isolator. "Doch unter diesem enormen Druck verwandelt es sich in einen Halbleiter", erklärt Friedemann Freund, deutscher Physiker an der San José State University. Wegen dieser Verwandlung rast die elektrische Ladung mit mehreren hundert Kilometern pro Stunde durch die harten Mineralien, bis sie an die Erdoberfläche gelangt. Was dann passiert, ähnelt den Vorgängen bei einem Gewitter: Die Spannung zwischen dem elektrisch aufgeladenen Boden und der Atmosphäre führt zu Entladungen - was die Luft zum Glimmen bringt. So jedenfalls lautet die Theorie. Den Beweis zu erbringen ist nicht leicht. Immerhin: Im Labor hat Festkörperphysiker Freund mehrmals große Gesteinsbrocken in einer gewaltigen Presse zusammengequetscht, bis sie zerbarsten. Zuletzt hat er den Versuch in diesem Sommer unternommen. Kurz bevor die Basalt- und Granitblöcke bei einer Auflast von 200 Tonnen pro Quadratzentimeter auseinander flogen, begannen sie zu strahlen. "Für menschliche Augen war das allerdings nicht sichtbar", berichtet Freund. Die dabei auftretende Strahlung maß er als infrarote Lichtwellen mit Hilfe eines Emissionsspektrometers. Freunds Messungen passen aber noch zu einer ganzen Reihe anderer Phänomene, die Erdbeben begleiten. So berichteten Piloten von Funkstörungen, der Radioempfang sei durcheinander geraten. Im kanadischen Städtchen Kenora läuteten bei einem Erdbeben, begleitet von pulsierenden Lichterscheinungen am Himmel, plötzlich die Telefone. Die elektromagnetischen Anomalien konnten bereits bei etlichen Beben mit Hilfe von einfachen Antennen gemessen werden.

Besonders ehrgeizig gehen japanische Seismologen inzwischen an die Erforschung dieser Phänomene. Die Forscher haben ihr Land, das auf der tektonisch aktivsten Zone des Planeten liegt, mit einem Netz von Antennen überzogen. Damit horchen sie nach besonderen Mustern in ultrakurzen Radiowellen. Die Veränderung der elektrischen und magnetischen Eigenschaften des Gesteins lässt sich möglicherweise sogar aus großer Höhe aufspüren. Für Schwankungen im Magnetfeld der Erde ist im Juni ein privater amerikanischer Forschungssatellit namens "QuakeSat" in die Umlaufbahn geschossen worden. Im nächsten Frühjahr soll der französische Trabant "Demeter" folgen. Für die Messung der Infrarotstrahlung ist weniger Aufwand nötig. Bereits seit langem zeichnen Wettersatelliten Infrarotstrahlung auf, um die Temperatur am Boden zu bestimmen. Diese Daten haben sich Freund und sein Physiker-Kollege Nevin Bryant vom Jet Propulsion Laboratory der Nasa nachträglich für Regionen besorgt, in denen sich ein heftiges Erdbeben ereignete. Rund um die katastrophalen Erschütterungen im indischen Gujarat (2001) oder im türkischen Izmit (1999) glauben sie eine unnatürlich hohe Infrarotstrahlung entdeckt zu haben, die nur eine Erklärung haben könne: gequetschtes Gestein. "In Zukunft könnten wir diese Anomalien vielleicht für präzisere Erdbebenvorhersagen nutzen", hofft Freund. Doch ihre Analyse der Infrarotaufzeichnungen spaltet die Forschergemeinde. "Plötzlich auftretende Temperaturänderungen des Erdbodens können viele Erklärungen haben", gibt Seismologe Klinge zu bedenken und führt dafür unter anderem vorüberziehende Wolken ins Feld. "Die Forschung des Deutschen ist sehr viel versprechend", widerspricht Geologe John Derr, Leiter des Global Seismograph Network im amerikanischen Albuquerque, den Kritikern: "Die Erde ist sonderbarer, als wir uns das gemeinhin vorstellen." Die Ablehnung der Seismologen erklärt sich Bryant auch mit Besitzstandswahrung. "Mehr als hundert Millionen Dollar staatlicher Zuschüsse gibt es hier für die Erdbebenforschung", sagt der Fernerkundungsexperte, "und diesen Kuchen wollen die Seismologen nicht mit anderen teilen." Dank dieser üppigen Finanzierung würden die Seismologen die Erde mit Messgeräten voll pflastern. So zeichneten sie ein Erdbeben nach dem anderen auf. Doch herausgekommen sei bislang wenig, so Freund, von einer Vorhersage von Erdbeben könne bislang keine Rede sein: "Ich verhindere eben auch keine Verkehrsunfälle, indem ich nur Mikrofone aufstelle, um zu hören, ob es irgendwo gekracht hat."

GERALD TRAUFETTER, Der Spiegel Nr. 42/2003


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